Auszug: "Verreist"

Alles, nur kein Vorwort:

Nachwort

Das schöne an der Schauspielerei ist, dass man dafür nichts zu können braucht – wenn man mal vom Bühnendeutschen absieht, das ich mir als Schweizer Darsteller nie geglaubt habe antun zu müssen. Man braucht als Schauspieler keine Tonleitern, keine Perspektive und kein Versmass zu beherrschen. Der Schauspieler ist sich sein eigenes Instrument. Dazu braucht es nur ein wenig Frechheit oder Selbstbewusstsein sich vorne hin zu stellen sowie das Aufsetzen von wohldosiertem Druck beim Ausagieren von Menschlichem, das diesem auf Bühne und Zelluloid Konturen verleiht. Der Schauspieler spielt sich also selber oder was er allenfalls bei Mitmenschen abgeschaut hat. Das ist sehr bequem, hat aber seinen Preis. Und der heisst Regisseur. Bei diesem handelt es sich um jenen Berufsausüber, der dem Schauspieler als objektivierende Instanz dient. Oder dienen sollte, weil der Schauspieler eben kein Objekt ausserhalb seiner setzt. Öfters als nicht wird der Schauspieler jedoch von seinem Führer kujoniert. Was heissen will, dass dieser ihm sagt, was aus der Sicht des Zuschauenden geht oder ganz und gar nicht geht und ihn anleitet, von da nach dort und wieder zurück und was weiss ich wohin zu gehen. Immerhin verfügt der Schauspieler über eine Innensicht des Geschehens. Diese gilt aber in aller Regel als zweitrangig, auch weil der Schauspieler zumeist in einem Ensemble spielt, das vom Regisseur angeleitet wird. Nun ist solches von einem eigensinnigen bis widerborstigen Typen nicht leicht hinzunehmen. Und ein solcher bin ich nun ausgerechnet. Das hat jeweils dazu geführt, dass ich nach einer Produktion mit der Gage im Sack auf und davon bin, um mich meiner Autonomie zu versichern und meine geknickten Widerborsten wieder aufzurichten.

Zuvor war ich in jungen Jahren mit dem Rucksack auf dem Buckel als Weltvermesser unterwegs gewesen. Ich wollte einfach wissen, wie weit es nach Norden, nach Süden, nach links und rechts geht. So bin ich mit dem Rad ans Nordkap gefahren, mit Pesche nach Südafrika und Norbert nach Namibia, mit Egon nach Australien und in Kalifornien habe ich Todd in San Francisco besucht. Ich sammelte Stempel im roten Pass, den ich häufig selbstgeniesserisch durchzublättern beliebte.

Seit ich nun eine Frau – Irene – habe, die einer regelmässigen Arbeit nachgeht, mache ich "Ferien". Damit Sie mich recht verstehen: Nicht, dass ich mich von Irene aushalten liesse – gottbewahris. Was ich meine, ist, dass ich mich nun im Gegensatz zu den langzeitlichen Ausflügen von ehedem zusammen mit Irene in Zwei- oder Drei-Wochen-Tranchen nach auswärts abzusetzen pflege.

Von Ferien kann man eigentlich nur sprechen, wenn man einer regelmässigen Arbeit nachgeht. Eben das tue ich nicht. Als freischaffender Schauspieler habe ich des öftern frei. Wenn man schon nichts tut, kann man ja nicht noch eine Auszeit davon nehmen und noch weniger tun. So habe ich denn zu Zeiten bei meinen Ausflügen in die grosse, weite Welt regelmässig mehr gekrampft, als ich es je zu Hause getan habe. Zum Beispiel mehrtägige Busfahrten durchgestanden oder mit dem Rad Alpenpässe im Dutzend hochgekraxelt. Als häufig Freigestellter habe ich auch keine Hobbys. Hobbys gibt es wie Ferien nur im Bezug auf  regelmässige Arbeitsleistung. Was ich in meiner freien Zeit gern tue – lesen, laufen und liegen – übersteigt das Ausmass von Liebhabereien bei weitem.

Von "Ferien" ist in einigen der vorliegenden Stücken Bericht erstattet. Dabei ist das Folgende zu beachten: Gemeinhin ist unsereins ja der Ansicht, er sehe, was er vor Augen habe. Das ist bei näherer Untersuchung alles andere als der Fall. Der Mensch, so wie er ist, sieht, was er sehen will. So könnte es durchaus der Fall sein, dass er mit Kartoffeln im Kopf in einem Diamantenfeld ebensolche Knollen findet und dabei die Diamanten übersieht. Auch heisst es, alles was ein Dieb an Buddha sehe, seien dessen Taschen. So kann man füglich folgern, dass wenn ich nach Kalabrien reise, nicht unbedingt Kalabrien sehe, sondern eine objektivierte Form meiner Subjektivität.

In der globalisiert-geschrumpften Welt von heute gibt es ja sowieso kaum noch was anderes. Hennes & Mauritz in Zürich ist auch Hennes und Mauritz in Buenos Aires. Ich erwähne gerade diesen Laden, weil ich mich auf Ausflügen mit Irene häufig vor einem solchen wiederfinde. Wenn  Irene dann nach Aufnahme des Inventars wieder auf die Strasse tritt, vergisst sie mich manchmal.

Ein Zen-Meister rät deshalb, dass, wenn man was anderes sehen möchte, man anders schauen müsse. Das hat den Vorteil, dass man dafür nicht um den halben Erdball reisen muss. Anders schauen kann man auch vom Balkon runter oder um das Haus herum. Was aber heisst anders schauen? Die Augen verdrehen, schielen? Kaum. Anders schauen heisst, intensiver schauen, mit mehr Bewusstsein. Mit dem Auge hinter den Augen. Solcherart zu schauen heisst, das Sublime im Gemeinen zu entdecken. Ich habe als jugendlicher Haschischkonsument einen Geschmack davon bekommen. Verladen, stoned, high oder was auch immer bestand die überraschende Erfahrung darin, dass man in die trivialste Ecke schauen konnte und sie einem als bedeutend vorkam. Wenn man dann ausnüchterte, sah man in der gleichen Ecke doch nur wieder den Gummibaum und den Wäscheständer. Das muss mich irgendwie geprägt und als dauernde Vermutung in mir festgesetzt haben, dass nämlich das Gewöhnliche das Wunder ist.

Das tönt denn auch meine schreiberische Ambition, an welcher ich nur zu oft gescheitert bin, die Darstellung des Banalen als etwas Interessantem. Das habe ich bereits mit den Memoiren eines gewöhnlichen Menschen, also mir, versucht. Und eben dies habe ich auch in den vorliegenden Stücken angestrebt. Verreisen bringt ja sehr viel Banales mit sich, weil man sich damit in einem nicht bekannte Umstände begibt, in denen man sich erst zurechtfinden muss. In ein Hotel einchecken, rausfinden, wo es eine Toilette hat, wo es was Anständiges zu essen gibt und was der sensationellen Aktivitäten mehr sind.

Trotzdem bin ich gerne unterwegs. Unterwegs fühle ich mich sicher. Aufbrechen ist meine grösste Lust. Fahren mein Medium. Mit dem Ankommen aber habe ich so meine Probleme. Daran arbeite ich noch.

 

Max Rüdlinger, Zürich 2012