Ich sträubte mich so gut ich konnte. Zum Schnaufen musste ich auf alle Fälle erst gezwungen werden.
Das Wetter war an diesem meinem Geburtstag im Osten noch vorwiegend sonnig, von Süden her wurde jedoch zunehmende Bewölkung erwartet.
Was mich auch nicht frischer machte, war, dass gleichentags, am 3. April 1949 – einem Sonntag – die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft von den Österreichern 1:2 auf den Sack bekam. Schon beim Anstoss verlor Eggimann den Ball durch ein so genanntes Oeko-Foul: Er trat in den Boden. Und weil der Trainer der Rotjacken, Karl Rappan, ein Österreicher, sich nicht verblödete, unser Stürmergenie Fredy Bickel erst zwanzig Minuten vor Spielende zu bringen, kam es wie es kommen musste: In der verbleibenden Zeit blieb Fredy nur noch, den Ehrentreffer zu erzielen.
Kaum geboren und schon Ärger mit der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft. Das sieht man mir heute noch an.
In der Folge brachte mir der Fussball aber nicht nur Stress, sondern führte mich als Dreikäsehoch auch zu religiöser Inbrunst. So betete ich zum Beispiel beim Dritte-Liga-Aufstiegsspiel des FC Flums gegen den FC Sevelen zum lieben Gott, er möge doch bitte, bitte den FC Flums gewinnen lassen. Ich denke, dass ich damals bei Flums durchaus ein Key Player gewesen bin.
Später beim SC Zug stand ich dann im Tor. Mein Vater erkannte schon damals den Blender in mir. Ich hechtete wie ein Gott, berauschte mich selber an meinen Plongeons, rann aber wie ein Sieb, weil ich im Grunde Angst vor scharfen Schüssen und deswegen die Tendenz hatte, mich immer ein wenig abseits des Geschehens zu stellen. Ich zog es vor, Ränzler nach dem Ball zu reissen, anstatt mir diesen in die Magengrube knallen zu lassen.
Damals in Flums erschien die <Neue Zürcher Zeitung> noch dreimal am Tage: am Morgen, am Mittag und am Abend. Eine Ausgabe kostete zwanzig Rappen. Wenn sich also einer auf einem abgelegenen Hügel den Pöstler zu seinem Todfeind machen wollte, brauchte er nur die NZZ zu abonnieren.
In meiner Kindheit hielten es meine Eltern so, dass die Mutter morgens dem Vater das Hemd für den Tag herauslegte. Mein Vater war Prokurist der <Sarganserländischen Spar- und Kreditkasse>.
Damit die Hosen ihre Bügelfalten behielten, legte mein Vater diese nächtens unter die Matratze. Morgens zog er zum Frühstück immer ein Haarnetz über, damit die zurückgekämmten nassen Haare auch im trockenen Zustand zurückgekämmt blieben. Die Socken hielt er mit Sockenhaltern an ihrem Platz und die Hosen mit Hosenträgern.
Wenn mein Vater den Kittel auszog, und alle Leute die breiten Hosenträger sehen konnten, schämte ich mich sehr.
Auf der Strasse zog er jeweils den Hut, wenn er jemanden sah, den er kannte, und gab oft noch einen Gruss an die <Frau Gemahlin> mit.
Mein Vater rauchte nicht, trank nicht, hatte überhaupt keine Laster, ausser dass er des öftern auch samstags und sonntags noch auf der Bank arbeitete. Beim Abendessen schüttelte er oft stumm kauend den Kopf, wenn er mit dem Gang der Dinge im Geschäft nicht einverstanden war.
Meine Mutter besorgte den Haushalt. Sie kochte, hielt das Haus sauber und strickte wunderschöne Lismer, die ich mit Stolz trug. Ihre Freude waren Topfpflanzen, die in künstlerisch bearbeiteten Kupfergelten prächtig gediehen. Ein üppig wucherndes Gewächs wurde <Schwiegermutter> genannt.
Mit meiner Mutter kam ich meist gut aus. Auf einem Ausflug in die Flumserberge überhörte ich jedoch einmal, wie sie zu Tante Paula irgendeine abfällige Bemerkung über mich machte. Ich war sehr beleidigt, liess absichtlich den Kontakt zu den beiden Frauen abbrechen, und alsbald waren sie meinen Blicken entschwunden. Ich fand ohne weiteres zur Postauto-Station zurück und fuhr – ohne mich um ein Billett zu kümmern – ins Dorf zurück. Meine Mutter hatte mich jedoch zu suchen, lief in ihrer Angst zu Fuss die ganze Strecke ins Dorf runter und holte sich dabei blaue Zehennägel, die in der Folge abfielen.
Die Grossmutter betrieb eine Hühnerfarm. Fast jeden Sonntag gab es bei uns eine Henne zum Mittagessen. Diese Hühnervögel waren unglaublich zäh, aber weil sie als etwas Besseres galten – das war noch vor den <Optigal-Güggeli> – kauten wir im Bewusstsein unseres Privilegs glückselig auf diesen Gummivögeln rum.
Die Hühnerfarm bewirtschaftete Martin, einer mein Onkel. Der hatte ein steifes Bein und einen Töff. Eines Tages hatte er von beidem genug – vom Hühnervieh sowieso – und erschoss sich.
Meinen Grossvater väterlicherseits habe ich nie kennen gelernt. In jugendlichem Forscherdrang habe ich mal den Büroschrank meines Vaters durchforstet und bin dabei auf Zeitungsausschnitte mit Reportagen aus dem Gerichtssaal gestossen. In diesen Berichten wurde geschildert, wie ein Johann Jakob Rüdlinger, mein Grossvater – er betrieb ein Abbruchgeschäft – als betrügerischer Bankrotteur und Heiratsschwindler verurteilt wurde.
Die Grossmutter soll aus Gram gestorben sein.
Meine erste Freundin war das Margritli. Es kam aus einem der Reihenhäuschen im Neuquartier, das Fabrikprinzipal Spoerry für seine Arbeiterschaft hatte erstellen lassen. Bei Margritli zu Hause war das Kanapee in der Stube mit einem Schutzplastik überzogen. Eigentlich war das Margritli eine Mesalliance, doch das war absolut kein Hindernis für unsere gegenseitige Zuneigung und die Entdeckungen, die wir beide in der Laube des Kindergartens mittels <Dökterlen> an der Physis des anderen machten. Dabei musste uns jemand gesehen haben, oder Margritli konnte das Maul nicht halten, auf alle Fälle musste ich mich bei ihrem Vater für die Avancen, die ich seiner Tochter gemacht hatte, verantworten.
Mein Vater spielte mir später in männlicher Komplizenschaft eine Broschüre zu, die meine Explorationen des eigenen sowie des weiblichen Geschlechtes vertiefen sollte. Die einem hermetischen Traktat gleichkommende Verschlüsselung geschlechtlicher Vorgänge in Bilder und Begriffe der Bestäubung der Floralwelt durch Bienen machte mich jedoch auch nicht schlauer.
Im Kindergarten hatte ich es hauptsächlich mit den Mädchen in der Bäbistube. Zu dieser hatten zwar nur Mädchen Zutritt. Ich setzte mich aber souverän über diese Regelung hinweg, was mich zu einem „Meitlipfützeler“ machte. Damit bezeichnet man einen „Knaben, der gerne Mädchen sieht und ihnen in auffallender Weise nachläuft, respektive mädchensüchtig ist“. Ich war bekennender Meitlipfützeler, auch weil ich mit Laubsägeln absolut nichts anfangen konnte und mir dabei nichts als in die Finger sägelte.
Im Kindergarten habe ich übrigens meine Schauspieler-Karriere gestartet. Schwester Boskop – ich war der Auffassung die Ordensschwester mit der Habichtnase heisse so; sie stellte das nie, nicht ein einziges Mal, richtig; erst als Erwachsener fand ich heraus, dass sie Schwester Bosco hiess – diese Schwester Bosco also hatte bei der Aufführung des weihnächtlichen Krippenspiels das gute Gespür, mich den Josef spielen zu lassen. Die Jungfrau Maria spielte die Gerda, in welche ich mich stantepede verliebte und zu welcher ich bis in die sechste Klasse in heisser Liebe entbrannt blieb. Diese Liebe blieb jedoch unerwidert.
Die Aufführung im Altersheim wurde schliesslich ein Desaster. Wir gaben zwar alles, aber die Alten schliefen in ihren Rollstühlen ein, schnarchten und röchelten was das Zeug hielt. Da packte mich der Ehrgeiz: Schwester Bosco hatte bei der Inszenierung so eine progressive Anwandlung. Auf alle Fälle gehörten zu den Gaben der Heiligen Drei Könige ein wackerer Mocken Käse. Um der ganzen Angelegenheit ein wenig Pfiff zu verleihen, verfiel ich auf die Idee, den Käse laut schmatzend auf der Bühne zu verzehren, was die Alten prompt sauglatt fanden, und sie in begeisterten Szenen-Applaus ausbrechen liess.
Wenn ich nicht gerade mit Meitlipfützelen beschäftigt war, sorgte ich anderweitig für Furore. Schwester Bosco hatte als martialische Persönlichkeit, welche sie den Kindergarten als eine Kleinkinder-Rekrutenschule führen liess, so eine Art, beim Klavierspiel heftig auf das Pedal zu stampfen. Zusammen mit ein paar Gehilfen verführte mich dies, ihr einen Pantoffelzapfen, eine Knallpetarde, unter das Pedal zu legen. Es knallte nicht schlecht, und das Klavier samt der Feldweibel-Schwester wurde in Pulverdampf gehüllt.
Ich würde mich als einen nervösen, leicht irritierbaren Menschen bezeichnen. Das kommt zu einem grossen Teil von meinem Namen. Wenn ein kleines Kind im noch prägsamen Alter dauernd „Max!“ oder meinetwegen auch „Maxli!“ gerufen wird, dann erschrickt es fortgesetzt infolge des Zischlautes. Der x-Laut eignet sich sehr gut für Hundenamen, wie zum Beispiel <Rex>. Das hört der Hund sehr gut; er spitzt die Ohren, weiss sofort, dass er gemeint ist und gehorcht aufs Wort.
Als ich in der Mitte meines Lebens mit dem Velo ans Nordkap fuhr, konnte ich in Lappland in Erfahrung bringen, dass es bei den Samen üblich ist, dass wenn ein Kind seinen Namen nicht erträgt, dieser gewechselt werden kann. Wenn also ein Kind, das <Max> gerufen wird, nervöse Störungen entwickelt, können die Eltern zum Beispiel auf <Ueli> wechseln, ein Name, der eher eine besänftigende Wirkung auf seinen Träger ausübt.
Mein bester Freund war der Rochus, so genannt nach dem katholischen Pestheiligen, gerufen aber <Pürli>, was auf Hochdeutsch <Brotsemmel> bedeutet. Pürli ist der Sohn vom Beck Beeler. Er war nicht einer der besseren Schüler. Er ging mir stets ein wenig auf die Nerven, weil er beim kollektiven Duschen immer so ungeniert nackend war und in der Kirche so laut heraussang. In der fünften und sechsten Klasse wurden wir ja noch behördlich zur Ganz-Körper-Reinigung abkommandiert. Trotzdem brach eines Tages die Krätze aus. Das war natürlich bäumig, denn da hatten wir schulfrei.
Pürli war mein Erstkommunions-Gespane, das heisst, wir gingen als Gespann zum ersten Mal zur heiligen Kommunion.
Der Beck Beeler hatte einen VW, den er dazu brauchte, um Brote am Berg auszutragen. Er war auch Vierte-Liga-Schiedsrichter. Da durfte ich manchmal mit an einen Match ins Liechtensteinische oder nach Domat Ems, wo es immer die höllischsten Keilereien gab.
Sehr oft war ich bei meinem Cousin Hansli und meiner Cousine Marlies auf der Grof. Sie hatten beide eine Güggelibrust. Hansli und ich, der Maxli – man nannte mich bis ins hohe Stipendienalter hinein so, weil auch mein Vater Max heisst – waren Kamikaze-Dreirad-Velöli-Fahrer. Mit frei drehenden Vorderrad-Pedalen pflegten wir – ich im Sattel, Hansli auf der Verbindung der zwei Hinterräder stehend und sich an meinen Schultern festhaltend – die Bahnhofstrasse runter zu sausen.
Der Unterhaltungen waren anno dunnemalen auf dem Lande noch nicht viele. Ein Kino wurde im Spargang betrieben. Der Hit unter uns Dreikäse-Hohen waren die Albert-Schweitzer-Filme, die der Pfarrer vorführte. Uns begeisterten nicht so sehr der Urwald-Doktor, als vielmehr die Negerinnen, denn bare Brüste hatten wir seit unserer Abstillung nicht mehr gesehen. Heute frage ich mich, wo da der Pfarrer hingeschaut hatte. Der war nämlich sehr katholisch und verliess jeweils die Gemeinde, wenn sie von heidnischem Unwesen überflutet wurde.
Das war vor allem an der Fasnacht der Fall. Man kleidete sich in alte <Hudlä> – die Männer vorzugsweise in Damenunterwäsche, Korsetts, Büstenhalter und dergleichen – verstellte unter der Holzlarve seine Stimme und sagte solcherart seinen Mitdörflern mal so richtig von Herzen, was man ihnen das ganze Jahr hindurch zu sagen sich nie getraut hätte. Zu der Ausrüstung gehörte etwa auch eine Schweineblase, <ä Schwiploutere>, welche die Fasnächtler an einer Schnur den Zivilisten um den Kopf schlugen. Unvermeidlich war, dass all dies unter Alkohol-Befeuerung zu Handgreiflichkeiten und Schlägereien führte.
Am Sonntag fand der Fasnachtsumzug, angeführt von einer der beiden Dorfmusiken, statt. Flums ist ein Kaff, hat aber zwei Musikkorps, die <Bürgermusik> und die <Harmoniemusik>. Diese beiden Musiken führten, ebenso wie der Männerchor, alljährlich ein <Chränzli> durch. Diese bestanden aus einem musikalischen oder gesanglichen Teil und der Aufführung eines Theaterstückes. Ich langweilte mich jeweils durch die Konzerte und war nur auf das Theater scharf.
Das beste Theater war das der Feuerwehr, nur schon deswegen, weil die kein musikalisches Rahmenprogramm hatten. Die Feuerwehrler hatten durchaus eine avantgardistische Auffassung von Theater, die darin bestand, mit den Armen fast das ganze Stück hindurch in der Luft herumzurudern.
Zu den alltäglichen Unterhaltungen von meinen Eltern und mir gehörte es, am Küchenfenster zu sitzen und auf den Postplatz runterzuschauen. Interessant war das vor allem im Winter, wenn sonntags gegen Abend die Skifahrer vom Berg die Strasse runter zum Bahnhof fuhren. Ansonsten hatte dies jahrein, jahraus am Mittag seinen Reiz, wenn die Fabrikler aus der Spinnerei ihren Mittagsmählern zueilten.
Oft war es mir langweilig, und ich fragte die Mutter in einem fort: „Mami, was soll ich tun?“ Wenn Mutter dann sagte: „So zeichne doch was…“, wusste ich nicht, was zeichnen. Und wenn sie sagte: „So zeichne doch einen Elefanten“, dann wusste ich nicht, wie ein solcher aussieht, und es interessierte mich auch nicht die Bohne.
Manchmal war es mir so langweilig, dass ich mir sagen musste: Das kann doch nicht sein, dass alles so langweilig ist. Ich muss einfach besser aufpassen, da muss es doch was Interessantes geben. Dann lief ich ganz andächtig die Bahnhofstrasse runter und nahm alles, jedes Detail, in mich auf. Train-Soldaten beispielsweise, die ihre Gäule striegelten, in der Turnhalle vis-à-vis vom Coiffeur Oberholzer auf Stroh lagerten, sich in hölzernen Waschtrögen wuschen und an Kinder Armee-Biscuits, so genannte <Bundesziegel>, verteilten. Aber bald schon war es mir wieder so langweilig wie eh und je.
Der Schulunterricht fesselte mich auch nicht über die Massen. Ich hatte das Zeugnis immer voller Einsen. In der dritten Klasse staubte ich meistens das Klavier ab oder ging für den Lehrer Zigaretten holen. Oft war ich auch Wandtafel-Chef, den einzigen Chefposten, den ich in meinem Leben je eingenommen habe.
Als meine Eltern nach Zug zogen, wurde ich in der dortigen Sekundarschule in Anbetracht meiner Herkunft telquel – meiner Meinung nach aber absolut zu Recht – als Skikanone gefeiert. Winters zogen wir dann im Klassenverband auf den Zugerberg, einen für meine Begriffe besseren Hügel, und dort kurvten meine Klassenkameraden bedächtig runter, während ich bei jedem Rank auf den Sack flog. Ich verstand die Welt nicht mehr. Von Flums her war ich mich an gerades Runterfahren, so genannte Pfeifen, gewöhnt. Kurven waren Neuland für mich.
In den Sechziger-Jahren war es mit der Ko-Edukation in Zug noch nicht weit her. Die Handelsabteilung des Gymnasiums, das ich alsbald besuchte, wurde jedenfalls bis zum Diplom geschlechtsgetrennt – oder wenn man will gleichgeschlechtlich – geführt. Für das Maturajahr wurden dann jedoch die beiden Klassen zusammengelegt.
So ging auf der ersten geschlechtsgemischten Schulreise gleich die Balz zwischen Fink, meinem besten Freund, Mäsi und mir um den Klassenstar, das Ruthli, los, das im Habitus stand, mit älteren Knaben zu gehen. Es handelte sich um eine zweitägige Schulreise, die uns ins Berner Oberland führte. Freund Fink, ein redegewandter Sarkast, stellte mich verbal derart in die Ecke, dass es mir die Sprache verschlug. Mäsi, der über eine Haartracht verfügte, welche Kookie aus <77 Sunset Strip> wie einen Chorknaben aussehen liess, war in seinem mündlichen Ausdruck eh etwas inhibiert und fiel deswegen von Anfang an aus der Konkurrenz. Mein Ego aber war durch die Finkschen Sticheleien dermassen verletzt, dass es in Gegenwart von Ruthli völlig dem Zwang erlag, sich lächerlich aufzuführen. So stürzte ich mich unter anderem in den Kleidern in einen Swimmingpool. Aber das half alles nichts. Auf der Heimreise im Zug konnte ich mein Selbstwertgefühl schliesslich nicht anders retten, als vor versammelter Mannschaft das Ruthli zu packen und zu küssen. Den Kameraden gingen die Augen über. Das war es, was ich wollte. Mehr wollte ich gar nicht, weil ich instinktiv wusste, dass diese Frau jenseits meiner Möglichkeiten war.
Ruthli aber muss mein Mut, bei dem es sich mehr um Verzweiflung gehandelt hatte, imponiert haben, und sie fasste eine gewisse Zuneigung zu mir. Dies wurde mir von einem Go-between, dem Husli, vermittelt, der den gleichen Schulweg wie Ruthli hatte. Ich war hin- und hergerissen. Dass diese Frau mich mochte, schmeichelte mir ungemein, andererseits aber hatte ich einfach Schiss, weil ich genau wusste, dass ich zwar Klassenbester und ein Streber, aber sonst noch ziemlich grün hinter den Ohren war. Die Verlockung war dann aber doch zu gross, und so ging ich schliesslich mit Ruthli.
Wie vorausgesehen, war ich der Sache aber nicht gewachsen. Während den Schulstunden wusste ich hinten und vorne nicht mehr, was da gespielt wurde. In den letzten Bänken alberte Ruthli mit meinen auf der Strecke gebliebenen Kameraden rum, während ich mich in der ersten Bank auf rein gar nichts mehr und ganz sicher nicht auf Differentialgleichungen konzentrieren konnte.
Während den Schulstunden hatte Ruthli die Oberhand, auf dem Nachhauseweg aber setzte ich meine geballte Verbal-Power ein und schlug zurück. Bis wir beim Bahnhof waren, war Ruthli meist in Tränen aufgelöst.
Einmal wurde es mir in meiner Eifersucht zu viel, und ich verliess das Schulzimmer mitten im Unterricht kommentarlos. Darauf hin musste ich beim Rektor vortraben, der mir nach dem Motto <Vom Knaben zum Mann> zusprach.
Als meine Mutter erfuhr, dass ich mit Ruthli ging, weinte sie.
Auszug aus "Das Recht auf Memoiren"